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Titel
Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie


Autor(en)
Borck, Cornelius
Reihe
Wissenschaftsgeschichte
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Kinzler, School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen

Cornelius Borcks „Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie“ rekonstruiert und analysiert die „Form- und Adaptierbarkeit eines elektrotechnischen Aufzeichnungsverfahrens“ (S. 11) ausgehend von der historischen Bedingtheit seiner Genese und Entwicklung. Die Elektroenzephalografie, also die Aufzeichnung von elektrischen Hirnwellen bei geschlossener Schädeldecke, ist nicht so bekannt wie die Elektrokardiografie, über die Borck vor einigen Jahren bereits einen sehr lesenswerten Aufsatz veröffentlicht hat.1 Die Aufzeichnung menschlicher Hirnströme wird der interessierten Öffentlichkeit am Ehesten in journalistischen Darstellungen von Schlaflabors präsentiert. Die Elektroenzephalografie, die heute vor allem in der neurologischen Diagnostik und als Visualisierungsverfahren von Hirnfunktionen in Echtzeit Anwendung findet, wird als beinahe abgeschlossener Forschungsgegenstand dargestellt. Was sie für eine (historiografische) Untersuchung reizvoll macht, ist das damit verbundene epistemologische Grunddilemma, das Borck in den Vordergrund stellt: Vom Menschen erdachte Maschinen visualisieren das „Denken“ des Menschen. Die Interpretation der Kurven durch die Hirnforschung hat daher eine Tendenz zur Selbstreflexivität, die bis zur Aporie reichen kann. Man könnte auch sagen: Jede neue Antwort – die dabei oft überraschend wenig zur Ausgangsfrage passt – wirft neue Fragen auf.

Die Frage, die Hans Berger, den „Erfinder“ der Elektroenzephalografie oder „Entdecker“ des Elektroenzephalogramms (EEG) bewegte, konnte mit Hilfe dieses Aufzeichnungsverfahrens nicht beantwortet werden – bereits hier zeigt sich, wie wenig die Technik- und Wissenschaftsgeschichte der Hirnströme eine „Siegeszugs-“ oder Erfolgsgeschichte ist. Berger, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Jena, arbeitete von den 1920er-Jahren bis zu seinem Selbstmord 1941 an der Visualisierung von „Psychischer Energie“. Sein Experimentalsystem, in dem spekulative Vorannahmen, die Telepathie eingeschlossen, mit den oft zufällig wirkenden EEGs in Einklang gebracht werden mussten, rekonstruiert Borck nicht zuletzt anhand des Nachlasses Bergers detailliert und unteleologisch. Aus Bergers teils unsystematischem Vorgehen ergab sich 1924 der Durchbruch aus einer Variation der experimentellen Anordnung zum Messen und Muskelaktionsströmen, womit Potentialschwankungen des Gehirns zum „epistemischen Ding“ (S. 55) wurden – auch wenn unklar blieb, was in einem EEG eigentlich abgebildet wurde. Technische Ungenauigkeiten, die es Berger beispielsweise nicht erlaubten, zuverlässig zwischen dem EEG bei einer Rechenaufgabe und dem EEG bei einfachem Offenhalten der Augen zu unterscheiden, waren bei weitem nicht das größte Problem.

Als Berger seine etwas präziseren Ergebnisse, die er mit Hilfe eines Spulengalvanometers erzielen konnte, 1929 endlich veröffentlichte, reagierte die deutsche Öffentlichkeit enthusiastisch: Vom „elektrischen Gedankenleser“ war die Rede und von der „Zickzackkurve der Menschenseele“ (S. 128). Borck gelingt hier eine gute kulturgeschichtliche Darstellung der Rezeption und ihrer Grundlage: der zeitgenössischen Konzentration auf die Elektrotechnik als Inbegriff der „Ambivalenzen von Körper, Geist, Seele und Gesellschaft“ (S. 86): „Die elektrischen Felder und Telephonschaltungen im Kopf waren wie die elektrischen Nervennetze moderner Städte Ausdruck explorativer und konstruktiver Strategien, mit denen Populärwissenschaft und Neuropsychiatrie der Zwischenkriegszeit einen Möglichkeitsraum gestalteten.“ (S. 112) Der Lügendetektor oder Versuche der Übertragung von telepathischen Botschaften über das Radio gehören in diese Zeit.

Wissenschaftliche Anerkennung erfuhr die Elektroenzephalografie zunächst in England, wo Bergers Arbeit vom Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian prominent rezensiert wurde, und in den USA, wo in den 1930er-Jahren EEG-Labore auf hohem technischen Niveau große Mengen an Kurven produzierten – nur waren auch hier die Fragestellungen sehr unscharf. Dafür stellte sich in den USA rasch die Epilepsie als (bis heute) zentraler diagnostischer Einsatzbereich heraus – Borck spricht von einem „epistemischen Bruch“ in der Geschichte der Epilepsie, von der „Neurobiologisierung eines psychiatrischen Krankheitsbildes“ (S. 216-218). Aber auch in anderen, oft populärwissenschaftlich besonders aktuellen Bereichen kam die EEG-Forschung mehr oder weniger erfolgreich zum Einsatz. Anhand von EEGs versuchte man in den 1930er-Jahren und darüber hinaus, auch in Deutschland, Krankheitsbilder, aber auch Persönlichkeitsmerkmale und Charaktertypen zu bestimmen. Berührungspunkte der deutschen EEG-Forschung mit der so genannten Eugenik, Elektroschocktherapien und -einsätzen (u.a. in Konzentrationslagern) lässt Borck genauso wenig unerwähnt wie zum Kriegseinsatz entwickelte elektroenzephalografische Apparate, die die geistige Konzentration von Piloten messen und Warnsignale beim kritischen Nachlassen der geistigen Leistung abgeben sollten, während bei feindlichen Bomberbesatzungen durch Radiostrahlung Angstzustände ausgelöst werden sollten.

Die Darstellung der Geschichte der Hirnströme reicht bis in die kybernetische Forschung bzw. zur erfolgreichen Verbindung der Elektroenzephalografie mit elektronischer Datenverarbeitung um 1950, die die Darstellung der Kurven wesentlich verbesserte. Die Geschichte der Hirnströme mit ihren vielen Umwegen und Abzweigungen, mit der konstruktiven Produktivität ihrer Experimentalsysteme, führt Borck abschließend zu einem „Plädoyer für eine offene Epistemologie“ – das menschliche Gehirn ist schließlich keine vorhersagbare, berechenbare Maschine.

Ein eher marginaler Kritikpunkt sei angemerkt: Die Kapitelüberschriften sind sehr unkonventionell und damit leider zu bedeutungsoffen formuliert; so heißen beispielsweise die beiden letzten der fünf Kapitel „Vorwärts und viel vermessen!“ und „Bauen Basteln Denken“. Auch geht aus dem Inhaltverzeichnis nicht hervor, in welche Zeitabschnitte die Untersuchung unterteilt wurde. Beides behindert die Orientierung des Lesers, zumal der Autor in der Einleitung den Aufbau der Darstellung nicht explizit skizziert.

Es lässt sich aber ohne weitere Kritik zusammenfassen, dass dem Wissenschaftshistoriker, Neurowissenschaftler, Mediziner und Philosophen Borck mit seiner abwechslungsreich bebilderten Kulturgeschichte der Elektroenzephalografie eine sehr überzeugende Synthese aus verschiedenen wissenschaftshistorischen Ansätzen gelungen ist: Die Rekonstruktion von Experimentalsystemen des EEGs (also die technische, methodische und epistemologische Entwicklung der Visualisierung von Hirnströmen in ihren, teils biografischen, Bedingungen und Kontingenzen) verbindet er mit den Wechselwirkungen mit der fachwissenschaftlichen und öffentlichen Rezeption der Hirnströme. So konzeptionell präzise und so kulturhistorisch möchte man die deutschsprachige Wissenschaftsgeschichte repräsentiert sehen.

Anmerkung:
1 Borck, Cornelius, Herzstrom. Zur Dechiffrierung der elektrischen Sprache des menschlichen Herzens und ihrer Übersetzbarkeit in klinische Praxis, in: Hess, Volker (Hg.), Die Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren der Medizin als kulturelle Praxis (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 82), Husum 1997, S. 65-86.

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